Bilder und Worte

Fotografie und Texte

Worte des Monats

Worte des Monats [2024/04]

[...] Die kurzen Weg von Anwohnern verlängerten sich zum Teil drastisch, so sehr, dass diese manchmal auf das Auto umsteigen mussten, allein schon um die Autobahn zu umfahren. Kurz: Der ungestörte Verkehrsfluss mit sehr wenigen Zu- und Ausfahrten für die einen führt zu Unterbrechungen der Verkehrswege für die anderen.[...]

[Betonmonster. Über den fatalen Siegeszug der Autobahn. Nelo Magalhães. LE  MONDE diplomatique, Ausgabe Schweiz, April 2024]

Brillante Analyse mit mir nicht bekanntem geschichtlichem Hintergrundwissen. Erschreckend erhellend. 


Worte des Monats [2024/03]

"Die Reinheit und Zartheit der Landschaft wurde noch hervorgehoben durch leuchtend weisse Hochspannungskabel, die sich so entschieden und Rücksichtslos quer durch alles zogen, als wäre jemandem die Vollkommenheit des Orts unerträglich geworden und er sähe keinen anderen Ausweg, als sie gleich sechsfach kräftig durchzustreichen." [S. 111]

[Endstation Engadin. Gian Maria Calonder (der ist: Tim Krohn). Kampa Verlag, Zürich, 2019]

Tim Krohn gelingt mit dieser neuen Krimireihe um den eigenwilligen Kommissar Massimo Capaul eine sehr gelungene Mischung aus kreativen Spannungsbögen, liebenswürdigem "Personal" und tollen Dialogen. Intelligente Unterhaltung, so dass man sich wünscht, das Buch hätte doppelt so viele Seiten! 


Worte des Monats [2024/02]

"Man zögert bei jedem ironischen Wort, das man über Wagenhause sagt, und doch kann man nicht anders. Man zögert, weil man das abgeschirmte Wochenendglück und Ferienglück der Leute am Rhein nicht verletzen möchte und weil die Leute hier erst richtige leben und den alten Menschen abstreifen können, weil viele hier zum erstenmal einen Anflug von Brüderlichkeit erleben, zum Beispiel auch physisch und mental behinderte Kinder, die man besonders gut aufnimmt. Und man kann nicht anders als bitter ironisch werden, weil sich die Brüderlichkeit auf einen Feriennationalpark beschränken muss, weil alle Sehnsucht aus der Arbeit weg ins Wochenende verlagert wird wie die Sehnsucht aber auch am Wochenende hängenbleibt im Gestrüpp der hässlichen Gewohnheiten, die einer haben muss, wenn er ausserhalb von Neu-Wagenhause nicht sofort vertrampt werden möchte." [S. 43/44, aus: Die Aufhebung der Gegensätze im Schosse des Volkes. Die Wochenendgesellschaft von Wagenhausen am Rhein.]

[Reportagen aus der Schweiz. Niklaus Meienberg, Luchterhand Verlag, 1974]

Für Niklaus Meienberg ist eine Schreibmaschine eine Art chirurgisches Präzisionsinstrument, mit dem er nahe und ferne Geschehnisse messerschart analysiert - ohne Rücksicht auf Verluste, einzig allein der Wahrheit und der Menschlichkeit verpflichtet. 


Worte des Monats [2024/01]

"Ausserdem existieren verschiedene Ansätze, die die Ungleichheit auf anekdotischere - oder einfach menschlichere - Weise beschreibt als diese Indizes. Die drei reichsten Menschen der Erde besitzen mehr Kapital als alle Bewohner der achtundvierzig ärmsten Länder zusammengenommen. Die reichsten ein Prozent der Weltbevölkerung haben mehr als die unteren siebzig Prozent. Und so weiter." [S. 99]

"Das Jevons-Paradoxon besagt, dass Effizienzfortschritte im Gebrauch eines Rohstoffs zu einer erhöhten Nutzung dieses Rohstoffs führen, statt sie zu senken. [...]
Das Paradox tritt in den verschiedensten Bereich des technischen Fortschritts zutage. Mehr Kilometer pro Liter: mehr gefahrene Kilometer. Schnellere Computer: mehr Zeit am Computer. Und so weiter und so weiter." [S. 211]

[Das Ministerium für die Zukunft. Kim Stanley Robinson, Wilhelm Heyne Verlag, München, 2021]

Etwas gewöhnungsbedürftige Mischung zwischen Sachbuch und Roman. Zuweilen spannend und mitreissend geschrieben, wenngleich die  Message vermutlich auch auf ein paar hundert Seiten weniger rübergekommen wäre... 


Worte des Monats [2023/12]

"Sie sahen also fern, die ganze Familie. Das heisst, sie sassen da, den Blick auf die sehr blaue Erde gerichtet. Und während sie so blickten, erzählte die Frau vom Leben auf der Erde, von Kräutern und Früchten, von Würsten und von frischem Brot, dass allen das Wasser im Mund zusammenlief. Sie berichtete von Schwarzwäldertorten und von schwarzen Wäldern, von Regen und von Schnee, von Schneemännern und Schneefrauen. Weiss der Kuckuck, woher sie das alles hatte." 


[Das Kind im Mond. Jürg Schubiger (Text), Aljoscha Blau (Illustrationen), Peter Hammer Verlag, 2013]  

Es ist immer wieder verblüffend zu merken, wie es Jürg Schubiger schafft, mit wenigen und einfachen Worten beim Leser und der Leserin Verwunderung, Staunen und ein sich öffnendes Herz zu bewirken.   


Worte des Monats [2023/11]

"Ich war stolz, dass ich von Jürg ein bisschen Dachdeckern und auch sonst einiges gelernt hatte. Zum Beispiel mehr zu wagen, die Dinge einfach anzupacken und darauf zu vertrauen, dass man es schafft. Wie auch immer." 


[Menschen am Weg. Begegnungen. Emil Zopfi, Rotpunktverlag, 2018, S.148]

Stimmungsvolles, ehrliches, lehrreiches, beglückendes Lebenspanorama an Hand von prägenden Begegnungen mit Menschen - ein sehr menschliches Buch.


Worte des Monats [2023/10]

"Die Art ,wie Gote sich nicht darum kümmert, ob Dora ihm folgt, spricht ebenfalls für eine langjährige Ehe. Die Idee besitzt einen merkwürdigen Reiz. Ein anderes Leben. Das berauschende Gefühl von Freiheit, das sich einstellt, wenn man beschlossen hat, auf alles zu scheissen." 


[Über Menschen. Juli Zeh, Luchterhand, 2021, S.193]

So viel Wortwitz und so viele Alltagswahrheiten in einer einfachen, ungeschminkten Sprache - ein Lesegenuss und Lesespass - und erst noch lehrreich und erhellend.


Worte des Monats [2023/09]

"Das Metronom der Scheibenwischer - eines der beruhigendsten Geräusche, besser als Musik. Und überhaupt, das schlechte Wetter, anders als so oft behauptet, ist es ja ein Stimmungsmacher: garstig draussen, friedlich drinnen. Umso friedlicher sogar, je garstiger es draussen ist, man rückt zusammen, hat sich lieb, das Herz geht einem auf, es öffnet sich für Mitleid, Selbstmitleid, man darf sich dann als Opfer fühlen, Opfer höherer Gewalt." 


[Dort. Niko Stoifberg, Nagel &  Kimche, 2019, S.102]

Die dicht gewobene, starke Erzählung entwickelt auch dank der fein gezeichneten Figuren einen theatralen Sog - ein sehr gelungener Erstlingsroman!


Worte des Monats [2023/08]

"Da musste der Ingenieur Isak eine gute Weile ansehen, ehe er die folgende erstaunte Frage tat: Kannst du damit mehr verdienen? - Verdienen? sagte Isak. - Ob du an den Tagen, die du bei der Aufsicht der Telegraphenlinie verbringen musst, mit der Feldarbeit mehr verdienen kannst? - Das weiss ich nicht, antwortete Isak. Aber es ist nu einmal so, dass ich wegen der Felder hier bin. Ich habe für das Leben von vielen Menschen und von noch mehr Haustieren zu sorgen. Wir leben von dem Grundstück. - Ja ja, ich kann den Posten auch einem anderen anbieten, versetzte der Ingenieur." 


[Segen der Erde. Knut Hamsun, dtv, 1999 (1978/1951), S.55]

Episches Sittengemälde: Heute gelesen wirkt das Werk vom Stil her wie aus der Zeit gefallen. Doch thematisch und vom Motiv her ist es sehr aktuell.


Worte des Monats [2023/07]

"Er war eben dabei, einen Ruf als der einsame Gejagte zu bekommen. In den TV-Nachrichten wurde er "Supermann" genannt, entweder in Anlehnung an den schwierigsten Wettkampf der Welt oder an die Fernsehserie "Superman". Doch vielleicht auch nur, weil "super" das Hilfswort der Armen in der Sprache ist." 


[Der Räuber. Martin Prinz, Jung und Jung, 2002, S.108]

Mitreissende und rasante Nacherzählung einer der verrücktesten Kriminalfälle, die Österreich je gesehen hat. Ein sprachlich und formell sehr gelungener Versuch, die Psyche des talentierten Langestreckenläufers und späteren Bankräubers und Mörders Johann Rettenberger zu erkunden.
Filmtipp: "Der Räuber" wurde im Jahr 2010 von Benjamin Heisenberg auf die grosse Leinwand gebracht. 


Worte des Monats [2023/06]


"Ich fand einen Weg. Ich lernte Noten lesen - es ist nicht schwierig, und es ist ein unerlässlicher erster Schritt." 


[Der Klang der Wut. James Rhodes, Nagel & Kimche, 2016 (2014). S. 64]

Ein Buch wie eine Achterbahnfahrt! Polarisierende, Stellung beziehende "all-in-Literatur". Rhodes macht keine halben Sachen und schafft es, dass man innerhalb weniger Zeilen zwischen Brechreiz und Jubelschreien hin- und hergeschlagen wird. Sein autobiografischer Roman lässt nichts aus und niemanden kalt. Sein Weg vom Vergewaltigungsopfer (das er natürlich sein Leben lang bleiben wird) zum gefeierten Künstler, Fernsehstart, Labelgründer, Autor und vieles mehr...  


Worte des Monats [2023/05]


"Von jetzt an schlug er zu, lautlos, unerwartet, wenn meine Mutter uns den Rücken zukehrte. 
[...] doch war mein Vater für mich mit spätestens vierzehn Jahren nur noch ein Tyrann, der willens war, mich für das kleinste Vergehen büssen zu lassen. [...]
Dann wieder konnte er aus dem Pub mit Händen voller Kleingeld nach Hause kommen und jedem Kind, das auf dem Platz spielte, ein Eis von dem Eiswagen kaufen, der durch die Beanfield-Siedlung fuhr. Wenn mein Vater auftauchte und mit dem Geld in den Taschen seiner RAF-Jacke klimperte, liefen ihm die Kinder entgegen, um sich von ihrem "Onkel Tommy" etwas ausgeben zu lassen. Die Einzigen, die nichts bekamen, waren die eigenen Kinder. Wir rannten ihm auch nicht entgegen, wir wussten es besser. Selbst wenn er gut gelaunt war, spendierte er uns kein Eis, weil wir keins verdienten."


[Lügen über meinen Vater. John Burnside, Penguin Verlag, 2017 (2006), S. 152/153]

Extrem harte Kost... Autobiografischer Coming of age-Roman eines Jungen, welcher mit einem gewalttätigen, gefühllosen, alkoholkranken Vater aufwachsen musste.


Worte des Monats [2023/04]


Dr Tod

Dr Tod
isch nid eine
wo eim uf d Schultere chlopft 
und seit
chum mit

sondern eine
wo eim i beidi Arme nimmt
und drückt
und drückt
bis mer nüt me anders 
chan dänke 
als

jo
i chume


[Vierzig vorbei. Gedichte. Franz Hohler, Luchterhand, 1988]

Dieser Text hat mich schon bei der Veröffentlichung extrem berührt. Und jetzt, dem Tod viele Schritte näher, hat er für mich nochmals an Tiefe und Wahrheit gewonnen, Eindrücklich, mit welcher Meisterschaft Franz Hohler den Sachverhalt - unbarmherzig aber auch tröstlich - auf wenige Zeilen kondensiert hat. 


Worte des Monats [2023/03]

"Nun, nun", schnurrte Baghira,"' auf meinen Rücken, kleiner Bruder. Wir wollen nach Hause."
Das ist im Dschungelgesetz eine ganz prächtige Einrichtung: wenn man seine Strafe erhalten hat, ist alles vergessen und vergeben. Da gibt es kein langes Brummen und Grollen. 
Mogli legte den Kopf auf Baghiras weichen Rücken und schlief so fest, dass er nicht einmal erwachte, als man ihn in der Höhle seiner Wolfseltern niederlegte.

[Das Dschungelbuch. Rudyard Kipling, dtv, 18. Auflage 1998 (1978), S. 55. Erstveröffentlichung 1894/1895]

Ein Lesevergnügen sondergleichen!  Was für wunderbare Beschreibungen, frech und witzig und brutal und unbarmherzig. Es gäbe noch dutzende andere Stellen, welche es verdient hätten, hervorgehoben zu werden, Nichts gegen die Disney-Adaption, welche sehr reizvoll und gelungen ist, das Buch hat aber eine ganz andere Tiefe. 


Worte des Monats [2023/02]

"Ich bin überzeugt, dass wir viel zu wenig langsam sind."

[Robert Walser, 1878-1956 ]

Robert Walser halt...


Worte des Monats [2023/01]

"Alle, die mehr als einen Handkoffer brauchen", sagte er, als er den Schlüssel zweimal in seiner Türe herumdrehte, "sind Touristen, nicht Reisende."

[Rosemaries Baby. Ira Levin, Hoffmann und Campe Verlag (deutsche Erstausgabe, 1968)]

Ein packender Text, hochklassig formuliert und aufgebaut - ein Lesegenuss (aber Achtung: Horror!)!